Eigene Beiträge

Gerd, Sigrun, Hans, Reinhard und Christine besuchen die KIFA-Praxis in Athen

Zu berichten ist von Armut und Hilfsbereitschaft, von anhaltendem wirtschaftlichem Niedergang - ohne einen Funken Hoffnung, aber auch von Solidarität, menschlicher Wärme und Gastfreundschaft; auch von leerstehenden Häusern, Fallgruben in Bürgersteigen von Stadt-und Bergwanderungen und von ganz besonderen optischen und kulinarischen Eindrücken.

WILLKOMMEN IN ATHEN!

Der Flug war easy, wie die Linie es verspricht. Es wird gerade dunkel, als wir aus dem Flughafengebäude treten. Gerd, unser Reiseführer, steuert den Bus 95 an, der uns geradewegs ins Herz der Stadt, zum Syntagmaplatz, bringt.

"Bitte helfen sie uns!", zwei schmächtige junge Männer, schäbig gekleidet mit großen Augen, bitten um Geld. Sigrun will wissen, woher sie kommen und zückt die Börse. Menschliches Strandgut, diese kommen aus Afghanistan. Wir werden ihnen überall begegnen. Sie schlafen in Grünanlagen, auch mal in einem Hauseingang oder auf einer versifften Matratze an einer Ecke. Ans Herz greift, da sind wir schon wieder auf dem Rückweg zum Flughafen, eine ganz junge Familie.

Maria, ganz zart und hübsch, fleht um ein paar Überlebensgroschen mit Jesus vor dem Bauch und Josef, aus dem Stamm der Roma, spielt bröckelige Melodien auf seinem Akkordeon. In welchem Stall werden sie unterkommen?

66 000 Flüchtlinge auf dem Festland und 15 000 auf den Inseln suchen Hilfe in Griechenland. Diese haben Angst, dass sie nach der Registrierung zurück geschickt werden in die Türkei, das werden wir später bei KIFA erfahren.

Wir steigen auf! Es ist schon dunkel, aber Gerd geht voran. Athen ist auf Hügeln gebaut, auch wenn die uns Nordlichtern eher wie Berge vorkommen. Unsere Koffer hinter uns herziehend versuchen wir den vielen Fallgruben in den Bürgersteigen auszuweichen, die selten so breit sind, dass zwei Menschen sich begegnen können. Also zotteln wir auch neben den Fahrbahnen, erkennen im Dunklen Stolpersteine und stehen nach gut einer Stunde vor unserer Herberge, die uns Alexandra gewährt hat.

Für griechische Wärme, Freundlichkeit und Gastfreundschaft gibt es einen Namen: Alexandra! Wir sind verstört von soviel Herzlichkeit. Obwohl sie (wie sicher die meisten ihrer Landsleute) von der Krise schwer gebeutelt ist, dürfen wir für unsere Unterkunft nichts bezahlen. Ganz ausgeschlossen! Und sie sorgt sogar für unser Frühstück. So müssen wir kreativ sein, um uns erkenntlich zu zeigen.

Wie lebt die Durchschnittsgriechin?

Wenn wir wissen wollen, wie es der Durchschnittsgriechin/dem Durchschnittsgriechen derzeit geht, brauchen wir nur Alexandras Fall zu nehmen. Manche kommen sicher noch schlechter durch die Krise, andere möglicherweise etwas besser. Um zu überleben, um Steuern und Abgaben, den Wohnungsunterhalt zu zahlen, muss sie einen Teil der Wohnung vermieten, das ist überlebensnotwendig (sie hat das Glück eine ganz besonders schöne Wohnung im 5. Stock mit herrlichen Ausblicken anbieten zu können). In ihrem Beruf als freischaffende Übersetzerin sind Aufträge und Bezahlung sehr mager geworden, so dass noch ein weiteres Standbein notwendig geworden ist: Sprachunterricht. Dreimal zwei Stunden in der Woche, also für sechs Stunden erzielt sie 57 Euro, wobei sie jedesmal fünf Stunden unterwegs ist - die Zeit für die Unterrichtsvorbereitung noch nicht eingerechnet.

Der Fall von Alexandra bestätigt: Man kann nur überleben mit mehreren Jobs, viele ohne Versicherung, also Schwarzarbeit. Nichts hat sich verbessert für die Bevölkerung im Jahr sieben der Krise.

Auf zur KIFA-Praxis! Dorthin, wo die Medikamentenspenden und die Geldspenden des Itzehoer Vereins angelegt werden! Gleich am ersten Tag geht es wieder kreuz und quer durch die Metropole. Diese Stadt will erlaufen werden! Viele Läden sind geschlossen, Häuser stehen leer, aber es pulsiert das Leben in den Straßen. Die Praxis ist mittwochs geschlossen, zwei Mitarbeiterinnen (alle hier arbeiten ehrenamtlich) sind vor Ort und zeigen uns die Räume. Ein großes Regalzimmer ist den Medikamenten vorbehalten. Das ist der Fundus, aus dem die Patienten behandelt werden. Rundherum die Behandlungsräume: Hier arbeitet der Zahnarzt, hier der Frauenarzt. Es gibt auch Behandlungszimmer, in denen Psychologen und Allgemeinärzte arbeiten. Alles erscheint uns ordentlich und zweckmäßig.

Spenden für KIFA

2000 Euro Spenden haben wir avisiert. Um die in Medikamente zu überführen, bekommt ein Apotheker, der mit KIFA zusammen arbeitet, eine Medikamenten-Liste. Medikamente für 1999,63 € passen in vier blaue Plastiksäcke, die wir zwei Tage später abholen und zu KIFA transportieren.

Wieder stehen wir vor dem zum Teil leerstehenden oder doch irgendwie bewohnten Bürogebäude und fahren mit dem Fahrstuhl in den 3. Stock. Wir werden erwartet. Kostas Kokossis, ein älterer Herr, begrüßt uns freundlich. Er war in seinem Berufsleben Diplomat, in mehreren Ländern Botschafter für Griechenland. Heute, als Pensionär, widmet er sich der Flüchtlingshilfe und der Organisation der KIFA-Praxis. Wir dürfen ihn befragen.

Interview mit Kostas Kokossis, organisatorischer Leiter der KIFA

35 Ärzte, 12 Zahnärzte, 5 Apotheker arbeiten stundenweise hier - ehrenamtlich neben ihrer sonstigen Tätigkeit. Hinzu kommen noch Ärzte, wie etwa Augenärzte, zu denen KIFA-Ärzte Patienten überweisen, die aber in ihrer eigenen Praxis behandeln. Die diversen Praxiszeiten, die Termine, die Überweisungen usw. der KIFA-Praxis, das alles wird von einem etwa 25köpfigen Sekretariatsteam bewältigt. "Insgesamt sind es etwa 80 Menschen, die hier ehrenamtlich arbeiten", so Kokossis.

"Was ist das Motiv für dieses Engagement?", wollen wir wissen. Am Anfang sei es mehr der menschliche Wunsch gewesen, zu helfen, "heute ist die Arbeit politischer geworden." Wir fragen nach dem Hintergrund unserer sozialen Arbeit.

"Woher kommen die Patienten?" Kokossis: "Das ist vielschichtig. Obwohl wir heute ein armes Land sind, gibt es im Schengenraum noch ärmere Staaten, so kommen Leute aus Bulgarien und Rumänien auf der Suche nach Arbeit. Es kommen auch Menschen aus Georgien, Aserbaidschan, Pakistan, auch sie wollen überleben. Dann die Kriegsflüchtlinge aus Syrien, Irak, auch Menschen aus dem Maghreb, aus Tunesien oder Marokko.“

Wie ist die Lage in Athen?

Kokossis: "Die Lage ist sehr kompliziert, da es verschiedene Arten von Hilfeleistungen gibt. Diejenigen, die von der UN-Flüchtlingshilfe betreut werden, kommen auch in Wohnungen oder Hotelzimmern unter - organisiert wird das von den NGOs. 40 % der Gelder, die die UN gibt, gehen an NGOs. Es arbeiten hier aber auch noch andere internationale NGOs, auch europäische und dann griechische Solidaritätsgruppen.

Hier mischt sich Alexandra ein, unsere Gastgeberin, die uns begleitet. Sie macht auf die ihrer Meinung nach problematische Rolle der NGOs aufmerksam. Die UN erhalte Steuergelder von den einzelnen Staaten für diese sozialen Aufgaben. Diese Gelder würden nun privatisiert, an auf eigene Rechnung arbeitende NGOs weiter gegeben.

"Wie ist die Zusammensetzung der Patienten, mehr arme Griechen oder mehr Migranten und Flüchtlinge? Und wie ist die Lage der Armen?"

Kokossis: "Anfangs war es 50:50, heute 70% Migranten und Flüchtlinge. Die Verschiebung hat damit zu tun, dass seit August 2016 die Behandlung für unversicherte Griechen und registrierte Flüchtlinge kostenfrei ist. Die große Frage ist, wie lange kann noch kostenlos behandelt werden, denn es wird überall weiter gekürzt. Problematisch sind auch die Zuzahlungen für Medikamente. Nur sehr wenige müssen nichts zuzahlen. Wer ein Einkommen von 6000 Euro und mehr im Jahr hat, der muss zuzahlen, wobei das eigene Auto und die eigene Wohnung als Einkommen gerechnet wird. Und wer eine Wohnung hat, aber Null Einkommen, so zählt die Wohnung als Einkommen - aber man ist nicht versichert. Deshalb sind es so viele Menschen, die den Eigenanteil bei den Medikamenten nicht zahlen können. Und deshalb ist die Hilfe der KIFAs so wichtig. Aber es gibt immer mehr Menschen, die aus dem System fallen. Wir haben eineinhalb Millionen Arbeitslose und zweieinhalb Millionen Menschen ohne Sozialversicherung. Fünfzig Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze. In den Flüchtlingsunterkünften arbeiten auch viele Ärzte, freiwillig. Diese schicken Schwerkranke in Krankenhäuser und die kommen dann mit den Rezepten zu uns oder in andere KIFAs. Für uns sind die Medikamente das größte Problem. Deshalb ist eure Hilfe so wichtig. Krebsmedikamente sind sehr teuer, es gibt sie in den Krankenhäusern überhaupt nicht mehr, die wenden sich dann an uns, die KIFAs."

Wir sind bestürzt. So verheerend hatten wir uns die Situation nicht ausgemalt. "Gibt es denn eine Hoffnung", fragen wir schon fast sehnsüchtig nach einem Silberstreif am Horizont. Schweigen. Achselzucken. Pause. "Nein. Keine Hoffnung", da sind sich Alexandra und Kokossis einig. Aber sie sind unterschiedlicher Auffassung in der Einschätzung der Lage.

"Seit 1. Januar werden die Finanzen der Griechen nicht mehr von uns Griechen kontrolliert. Wie nennt man das?", wirft Alexandra ein. Sie springt auf, aus ihren Augen blitzt Empörung. "Das Parlament hat seine Entmündigung selbst beschlossen! Herrlich! Ein Sklave muss Ja sagen! Mir blutet das Herz, wohin wird das führen?" klagt sie.

Kokossis wirkt gedämpfter. "Es ist ein Ringen zwischen EU und griechischer Regierung. Und Syriza wurde schließlich wieder gewählt nach dem Ochi 2015. Sicher, jetzt sind wieder sehr viele enttäuscht, aber es war eine Wahl."

Und nicht zu vergessen sei, dass sehr viele Griechen bei der Migrantenversorgung helfen und dass die Goldene Morgenröte - noch - keinen Resonanzboden gefunden habe.

Alexandra tröstet das nicht, sie wird mit Kostas Kokossis befreundet bleiben, trotz dieser Meinungsunterschiede.

Hoffnungslose Lage in Griechenland – warum?

"Wie kann man so leben, so ohne einen Hoffnungsfunken?", fragen wir uns abends beim Tafeln und Genießen (neun Vorspeisen, z.B. mit Kamelfleisch, unnachahmlich!) in einer Keller-Kunst-Kneipe mit gefühlsstarker Livemusik.

"Man muss, wir weinen nicht jeden Tag. Wir feiern auch", entlastet uns Alexandra. Wichtig sei für sie, die politische Lage zu verstehen, einzuschätzen.

"Ziel der EU-Kommission ist es von Anfang an gewesen, den Widerstand von links zu zerstören. Griechenland durfte kein Beispiel für andere Länder sein. Dann wäre dass Konzept der Ausräuberung und Verarmung gescheitert. Syriza hat dieses Spiel mitgespielt. Der Teil der Bewegung, die jetzt an der Macht ist, ging es nie um eine linke Alternative. Sonst hätte es einen Plan B geben müssen. Man war von Anfang an bereit, das Memorandum zu unterschreiben. Es war ein taktisches Spiel mit dem linken Widerstand."

Derzeit betreibe die Regierung die Privatisierung, den Ausverkauf. Und werfe kleine Nebelkerzen, etwa durch die Sonderzahlung an die Rentner. Inzwischen habe der zuständige Minister einen Demutsbrief nach Brüssel geschrieben und versichert, dass so etwas nicht mehr vorkomme. Demnächst aber würden die Renten weiter gekürzt. "Die greifen alles ab, auch das Arbeitsrecht. Die Tarifverträge werden ausgehöhlt und es darf unbegrenzt entlassen werden."

Ob Syriza bis 2019 durchhalten können? "Niemals", meint Alexandra, "gut möglich, dass die N.D. (Neo Demokratia) mit Syriza koaliert."

ATHEN, WIR KOMMEN WIEDER!

Am Tag unserer Abfahrt genießen wir in der warmen Frühlingssonne vom Balkon aus die Aussicht auf den Lycabettus*), den Berg mit der Kirche und dem Gesang des Priesters jeden morgen. Wir haben ihn bestiegen und die herrliche Aussicht auf Athen genossen. Wir waren in dem Markthallen, am Zeustempel und in Klein-Anafi (Anafiotika), einem weiß-blauen Puppenstubendorf, erbaut von Bauarbeitern, die die Bauweise ihrer Insel mitbrachten. Auch der Besuch bei Angela (geboren in Itzehoe) und Angelos (geboren auf Lesbos), beide wohnhaft in Athen, hat uns Einblicke in die wunderbare griechische Gastfreundchaft und das Überleben in der Krise gewährt.

Wir sind voller Achtung vor der Leistung unseres Reiseführers, Gerd, der es verstanden hat, unsere Psyche durch die Ab- und Umwege der Metropole mit der immer wieder aufmunternden Bemerkung "Garnichmehrweit!" zu stabilisieren, aber auch vor Sigrun, die umsichtig immer dafür sorgte, dass die fußlahmen Nachzügler nicht abgehängt wurden.

Dank den Begegnungen mit Alexandra und Kostas Kokossis ist unser Verständnis für die Lage der Menschen, die Situation im Gesundheitswesen, gewachsen.

Nachtrag: Ein nicht allgemein diskutierter, aber beim Aufschreiben dieser Reiseeindrücke aufkeimender Gedanke sei hier noch angefügt.

Wir müssen registrieren:

Sieben Jahre erzwungene Sparpolitik hat zum Ausbluten des Sozialstaates gefühlt. Griechenland wird auf das Niveau eines Koloniallandes gedrückt, die letzten Schätze werden derzeit privatisiert. Hier verliert die Politik EU den letzten Rest von Legitimation und Ansehen.

Und doch gibt es KIFA, gibt es fünf KIFAs in Athen und anderen Städten, es gibt auch andere Gruppen organisierter Solidarität. Es nehmen die Fragen nach den Ursachen für die desolate Lage zu, wenn Kokossis berichtet, dass die Helfer politischer geworden sind. Noch ist es eine Nischensolidarität. Die jetzige desolate Situation ist historisch beispiellos.

Wir sollten nicht nachlassen mit der Hilfe für KIFA.

Solidarität ist notwendiger denn je!!

Christine und Hans

*) Der Lykabettus (griechisch Λυκαβηττός/Lykavittós, neugriechische Aussprache [likaviˈtɔs], altgriechisch Lykabēttós, lateinisch Lycabettus) ist der Stadtberg Athens [Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Lykabettus]